24 Stunden online

DER STANDARD, Donnerstag, 22. Oktober 1998, Seite 59

Nicht auf die Geschwindigkeit, auf die Verfügbarkeit kommt es an

24 Stunden online

Spricht man vom Internet-Zugang per Telekabel, beginnen die Augen des geplagten Modem-Surfers zu leuchten, träumt er doch davon, losgelöst von der Telefonleitung auf dem Datenhighway dahinrasen, und Megabyte über Megabyte an Daten aus aller Welt in Windeseile auf seinen PC zu schaufeln. Uwe Fischer-Wickenburg erkannte jedoch, daß es in der Praxis weniger die Geschwindigkeit ist, die eine Standleitung ins Netz der Netze so erstrebenswert macht, als die Möglichkeit, 24 Stunden am Tag online zu sein. Plötzlich stehen auch dem privaten User Anwendungen offen, die bisher nur Unternehmen in Anspruch nehmen konnten.

7:30 Uhr Noch bevor ich die Augen richtig geöffnet habe, tappe ich zum Computer, um zu sehen, wieviele E-Mails über Nacht eingetrudelt sind. Damals, als ich noch per Modem im Netz hing, hätte ich wahrscheinlich fünfmal versuchen müssen, eine Leitung zu meinem Provider zu bekommen, da offenbar der Drang nach Informationen bei allen Menschen zur selben Zeit erwacht, aber mit der Standleitung ist das kein Problem mehr.

8:15 Uhr Die wichtigsten Newsgroups und Agenturen nach berichtenswerten Innovationen durchforstet. Man liest in Gemütsruhe auch ein paar Diskussionsfäden, die man eigentlich gar nicht benötigt, aber da die Online-Zeit ja außer der monatlichen Gebühr von knapp 600 Schilling keinen Groschen mehr kostet, kann man auch ein paar Ausflüge in fremde Gefilde des Netzes riskieren.

9:00 Uhr Altavista vermeldet, daß mein schon so lange gesuchtes Shareware-Programm auf einem Server in Kroatien zu finden ist. Schnell das entsprechende Hyperlink angeklickt, und Sekunden später soll das File auf meiner Festplatte liegen. Aber weit gefehlt! Fast könnte man meinen, jemand würde die einzelnen Bits als Morsezeichen über das Netz klopfen. Denn auch die schnelle Verbindung zum Telekabel-Server bringt nichts, wenn die Daten nicht auf einem der Telekabel-Rechner gespiegelt sind, sondern irgendwo auf einem langsamen Privat-PC dahindümpeln.

9:15 Uhr Von den insgesamt zwei Megabyte haben es bereits 130 KB auf meinen Rechner geschafft. In der Zwischenzeit ist am Faxgerät eine Nachricht für mich eingetrudelt; früher, als ich noch per Modem im Netz hing, hätte das Klopfen in der Telefonleitung den Datentransfer unterbrochen, und ich hätte den Ladevorgang von vorn beginnen können. So überlasse ich den PC sich selbst, während ich in die Redaktion fahre. Ist ja auch egal, wie lang es dauert; wenn ich am Abend heimkomme, ist die Datei sicher fertig geladen.

11:50 Uhr Was mein PC daheim wohl gerade treibt? Über VNC (Virtual Network Computing) klinke ich mich vom Arbeitsplatz aus in meinen Rechner daheim ein. Im Fenster des Internet-Explorers erscheint der Windows-Desktop, und nach ein paar Mausklicks weiß ich, daß die Datenübertragung aus Kroatien inzwischen erfolgreich abgeschlossen ist.

13:15 Uhr Wo ist bloß der Text, den ich gestern abend daheim geschrieben und dann in die Redaktion gemailt habe? Wenngleich es die Internet-Provider immer heftig bestreiten, kommen E-Mails doch immer wieder gar nicht oder erst mit vielen Stunden Verspätung am Ziel an. Aber in diesem Fall ist das nicht wirklich tragisch; in weiser Voraussicht stelle ich meine Texte und Bilder immer in ein passwortgeschütztes, aber doch über das Internet zugängiges Verzeichnis auf meiner Festplatte. Ein paar Mausklicks, und schon liegt das File auf dem Arbeitsplatzrechner in der Redaktion, ich habe es einfach von meinem Server „heruntergeladen“, wie das „Downloading“ auf Neudeutsch so schön heißt.

14:30 Uhr Manchmal überkommt einen High Tech-Journalisten der Drang, seine Mitmenschen mit den Errungenschaften der modernen Technik zu beeindrucken. Wie wäre es mit einem Blick vom Kaffeehaus aus in mein Wohnzimmer? Über den Laptop und das Handy ins Netz eingeloggt, Passwort eingetippt, und plötzlich erscheint das Bild meiner daheim installierten Web-Kamera auf dem Bildschirm. Das Publikum staunt, ich fühle mich wie ein Zauberer, dem ein tolles Kunststück gelungen ist.

18:00 Uhr Wieder zuhause der obligate Check meiner elektronischen Post, dann geht es an den nächsten Software-Test: Ein Grafikprogramm, mit dem man Bilder gleich im World Wide Web publizieren kann.

20:15 Uhr Ein Kollege teilt mir telefonisch mit, daß sich das neue Bild auf meiner Web-Seite ganz gut macht, aber jetzt offenbar ein Link nicht mehr funktioniert. Zum Glück kann man jetzt auch online sein, während man telefoniert – ich repariere das File, während mir mein Freund live schildert, wie sich die Modifikationen in seinem Browser auswirken.

21:00 Uhr Während ich eine Kaffeepause halte , flackert die Lampe meines Zip-Laufwerkes. Irgendjemand hat sich auf meinem privaten Web-Server eingeloggt, wahrscheinlich, um einen meiner alten Artikel zu lesen. Ein Blick in das Logfile sagt mir auch, auf welche Datei der Besucher zugegriffen hat, und verrät mir, daß er Zugriff vom Server des STANDARD aus erfolgte. Also nur ein virtueller Besuch von einem Kollegen. Der letzte Zugriff kam aus Italien, das war schon spannender – nur schade, daß ich nicht weiß, wer da wie und warum auf meinem Server gelandet ist. Irgendwie erinnert das alles an die Kurzwellen-Zeiten, als es das höchste der Gefühle war, einen Funkspruch über ein Kontinente hinweg zu empfangen.

22:00 Uhr Die Integration von Internet-Funktionen ist bei immer mehr Programmen Standard. Der amerikanische Routenplaner, mit dem ich mich auf meine nächste Reise vorbereite, bietet zu fast jedem Ort ein Hyper-Link an. Will ich mehr über einen bestimmten Nationalpark wissen, klicke ich nur auf den entsprechenden Button, und schon öffnet sich auf meinem Monitor die entsprechende Homepage. Früher, als ich mich jedesmal neu einwählen mußte, bremste dies die Arbeit derart ein, daß ich nach einer halben Stunde auf diese wertvolle Option verzichtete.

23:30 Uhr Auch die Besprechung von Spielen ist ein Bestandteil der „pc.tips“, und „Larrys Casino“ wird erst durch die Interaktion mit anderen Spielern so richtig interessant. Offenbar gibt es noch mehr Nachteulen unter den Computeranwendern, denn im virtuellen Casino treffe ich noch 73 Leute an. Gott sei Dank ist es nur ein Spiel, denn die Herrschaften Cybercat und Lorimax – keine Ahnung, wer sich hinter diesen Pseudonymen verbirgt, im Cyberspace herrscht eine faszinierende Kombination von Intimität und totaler Anonymität – knöpfen mir beim Pokern mein letztes Geld ab, sodaß ich virtuell bankrott ins Bett schleiche und meinen Computer bis morgen früh dem Rest der Welt als Spielwiese überlasse. (ufw)