Jenseits von Disney und Cheeseburger

DER STANDARD, Samstag/Sonntag, 26./27. April 1997, Seite S1

Jenseits von Disney und Cheeseburger

FLORIDA Der südlichste Bundesstaat des US-amerikanischen Festlandes hat wesentlich mehr zu bieten als vor Touristen und Einheimischen wimmelnde Vergnügungsparks und überfüllte Strände.


Uwe Fischer-Wickenburg


Glaubst du, werden wir auch Krokodile in freier Wildbahn sehen?“ fragt ein Mitglied unserer kleinen Reisegruppe zögernd. Ich erspare mir und dem Rest der Partie den neuerlichen Hinweis, daß die „Krokodile“ hier in Wirklichkeit Alligatoren sind, ebenso wie den Besuch der überall propagierten und beworbenen Ringkämpfe, in denen tapfere Männer mit langen Stöcken aus sicherer Entfernung den Reptilien auf ihre verwundbarste Stelle, die Augen, schlagen und dann das schon fast besinnungslose Tier in _einem mutigen Zweikampf niederringen.

Freilich, für die hier lebenden Seminolen, die Nachkommen verschiedener, im 18. Jh. von den weißen Eroberern in die Sümpfe Floridas getriebenen Indianerstämme, bildet der Tourismus heute die wichtigste Einkommensquelle, und die Kämpfe mit den Alligatoren sind auch tatsächlich historischen Ursprungs – immerhin waren die Reptilien früher das Hauptnahrungsmittel der Sumpf-Bewohner –, aber Tierquälerei zum Gaudium johlender Touristenmassen rechtfertigt dies für mich noch lange nicht.

Um meinen Gästen, die das „andere“ Florida kennenlernen wollen, eine Begegnung der unheimlichen Art zu bescheren, verlasse ich den Großraum Miami nicht auf dem berühmten Everglades Parkway, sondern dem wesentlich weniger bekannten und daher auch nicht so stark frequentierten Tamiami-Trail. Der Spitzname der offiziell US-41 benannten Ost-West-Verbindung von der Atlantik-Küste zum Golf von Mexiko stammt übrigens nicht, wie man annehmen könnte, aus dem Indianischen, sondern ist ein Kunstwort, das sich aus den Städtenamen Miami und Tampa, den Endpunkten der Straße, zusammensetzt. Parallel zum Highway, der den Everglades Nationalpark durchschneidet, verläuft eine Wasserstraße, der Tamiami-Kanal.

In einer Ausweiche halte ich den Wagen an und lasse die Passagiere aussteigen. Der hämisch erwartete Aufschrei läßt nicht lange auf sich warten. Nicht einmal zwei Meter von der Leitschiene schwimmt mit ungeahnt eleganten Bewegungen ein mindestens zwei Meter langer Alligator an uns vorbei. Und er bleibt nicht der einzige: Am sumpfigen, mit dichtem Gestrüpp bewachsenen Ufer des Kanals liegen die Panzer-Echsen in geradezu regelmäßigen Abständen en masse in der tropischen Sonne.

Der Tamiami-Trail ist ein Geheimtip für Tierliebhaber. Da es hier kaum menschliche Siedlungen, ja nicht einmal eine Cheeseburger-Bude gibt, und die Straße mitten durch das Kernland der Sümpfe schneidet, kann man die unterschiedlichsten Vogelarten aus allernächster Nähe beobachten, und mit etwas Glück laufen einem sogar ein Gürteltier oder ein Waschbär über den Weg. Visitor Center und Naturlehrpfade befinden sich zum Teil noch im Aufbau, die finanziellen Schwierigkeiten, mit denen die National Park Services zu kämpfen haben, beeinträchtigen die Entwicklung.

Etwa ab Maples, wo die Interstate auf die Golfküste trifft, verdichten sich die Touristenströme dann wieder. Seinen Höhepunkt findet das Gedränge bei Fort Myers auf der schmalen Zufahrtsstraße nach Sanibel Island, wo es nur im Schrittempo Stoßstange an Stoßstange weitergeht.

Der ehemalige Piratenunterschlupf ist Opfer einer großangelegten Initiative, die bisher weniger bekannte Westküste Floridas ebenfalls für den Massentourismus zu erschließen. Einst romantische, verträumte Buchten und Strände werden von Straßenwalzen eingeebnet, um noch mehr sonnenhungrigen Urlaubern aus dem kalten Norden der Staaten Platz zu bieten. Lediglich North Captiva, der äußerste Zipfel der vorgelagerten Inselkette, ist noch vom Massenansturm verschont als letzte Zuflucht für Individualisten, die sich nicht wie Sardinen auf einem hoffnungslos überfüllten Strand aufreihen lassen wollen.

Doch glücklicherweise ist Florida groß genug, um den touristischen Horden entfliehen zu können. Hat er erst den Großraum Tampa überwunden, kann sich der streßgeplagte Reisende wieder ruhigeren und friedlicheren Urlaubsfreuden hingeben.

Weg von den Klischees

Während der „normale“ Florida-Urlauber auf die Insterstate 4 westwärts in Richtung Orlando abzweigt, wo ihn Mickey Mouse und Donald Duck bereits sehnsüchtig in der synthetischen Walt Disney World erwarten, führe ich unsere Gruppe weiter die Küste entlang nach Norden, wo die Attraktionen nicht aus Beton und Plastik von Menschenhand geschaffen wurden. Während sich die Naturschönheiten im Westen der USA weltweiten Ruhmes erfreuen, wird der Tourismus in Florida derart auf Fun und Luxus konzentriert, daß man viele durchaus sehenswerte Punkte oft nicht einmal auf den Landkarten eingezeichnet findet.

Bei Homosassa Springs nahe Crystal River etwa erwartet uns mit dem kleinen State Wildlife Park ein Naturparadies, das seinesgleichen sucht. Obwohl man mit dem Auto direkt das Visitor Center erreichen könnte, ziehe ich die spektakulärere und zugleich romantischere Alternative vor: Von einem Anlegesteg fahren in regelmäßigen Abständen Propellerboote mitten durch den Urwald zu einem kleinen Zoo, in dem verletzte Wildtiere medizinisch versorgt und gepflegt werden.

Eine der Hauptattraktionen von Homosassa Springs ist das Unterwasser-Observatorium. Von einem „unterkellerten“ Hausboot aus kann man hier durch Glaswände die gigantischen Manatees in ihrem natürlichen Habitat beobachten. Die auf den ersten Blick plump wirkenden Seejungfern entwickeln unter Wasser nicht nur eine ungeahnte Eleganz, sie sind auch ausgesprochen zutraulich. So mancher Taucher, der zu den unterirdischen Quellen, die die Seen und Flüsse dieser Region speisen, hinabstieg, fand sich als Spielgefährte der riesigen, entfernt an schwimmende Elefanten erinnernden und doch so sanften und gutmütigen Säuger wieder– ein beeindruckendes Erlebnis, von dem man jahrelang zehren kann. Doch leider ist es gerade ihre Zutraulichkeit, die die Existenz der Manatees bedroht: Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen mit rücksichtslos dahinrasenden Motorbooten, bei denen die Tiere zumeist den Kürzeren ziehen.

Aber nicht nur Naturliebhaber kommen in Florida abseits der ausgetrampelten Touristenpfade auf ihre Rechnung, auch für den kulturell interessierten Individualtouristen hält das Land einige versteckte Perlen bereit: Im Nordwesten, nur wenige Kilometer südlich der an sich nicht weiter spektakulären Großstadt Jacksonville, liegt St. Augustine, das als die älteste ständig bewohnte Siedlung der USA gilt.

„Kaum zu glauben, daß wir hier in Amerika sind,“ staunt eine Mitreisende, während wir durch die bis auf das Jahr 1565 zurückreichenden alten Gassen schlendern. Der historische Stadtkern ist– für die USA eigentlich untypisch– komplett für den Autoverkehr gesperrt, sodaß man sich beim Spaziergang mitunter wirklich in die Vergangenheit zurückversetzt fühlt. Dazu tragen auch die Handwerker und die „Soldaten“ in ihren den spanischen Eroberern nachempfundenen Uniformen bei, die für touristische Schnappschüsse posieren. Fast mediterran muten die Bauwerke mit ihren Bogengängen, Türmen, Kuppeln und roten Ziegeldächern an, das Flagler College und die Kathedrale würden genauso gut in den Süden Spaniens passen.

Hin zur Tradition

Das älteste, noch erhaltene Bauwerk in San Augustine ist das Castillo de San Marcos, das die Spanier im Jahr 1672 als Verteidigung gegen die immer mächtiger werdenden englischen Kolonien errichtet haben. Die Festung selbst mit ihren sternförmig angelegten Mauern wurde zwar nie von Feinden eingenommen, der eigentlichen Stadt blieb ein grausames Schicksal aber nicht erspart: Im Jahr 1702 mußten die 1000 Bürger, die sich gegen die angreifenden Engländer im Castillo verschanzt hatten, hilflos zusehen, wie die Feinde die Holzhäuser von San Augustine plünderten und niederbrannten. Jeden dritten Samstag im Juni erwacht die spanische Vergangenheit noch einmal zum Leben, wenn in der „Spanish Night Watch“ die Einwohner der Stadt in historischen Trachten zu einem Lichterumzug aufbrechen.