Durch die Wüste

DER STANDARD März 1994

Durch die Wüste

Abenteuer Tunesien


Uwe Fischer-Wickenburg


Mit einem etwas verunsicherten Blick studiert der Araber in der eleganten, braunen Uniform die Landkarte. Dann hellen sich seine Augen auf. „Oui, ici, Es Sabria!“ freute er sich, als er den Namen seines Heimatdorfes entziffert. Zwei andere Araber, die zufällig an der kleinen Wachstation der Garde Nationale am Rande der Wüste vorbeigekommen sind und den Fremden, die sich scheinbar hier verirrt haben, weiterhelfen wollen, schließen sich der freudigen Erregung an. Einer der beiden Männer, nach abendländischem Vorbild mit Anzug und Aktenkoffer unterwegs, erkennt auf dem Plan sogar den etwa 50 Kilometer weiter im Norden gelegenen Ort Kebili, aber das hilft den „gestrandeten“ Reisenden auch nicht viel weiter. Eines ist klar, keiner der drei hat je zuvor eine Landkarte gesehen – und keiner versteht, was wir eigentlich wollen. Daß die punktierte Linie auf der Karte die Fahrpiste von der Oase El Faouar nach Zarzine darstellen soll, und daß wir die Abzweigung dorthin suchen, ist den Arabern nicht begreiflich zu machen.

Das Kartenmaterial, das man in Österreich zum Thema Tunesien erhält, scheint nicht schlecht zu sein, winzige Wüstensiedlungen sind ebenso darin zu finden wie einzelne Oasen und Wasserlöcher. Aber der Detailreichtum trügt: Man lege zwei Karten verschiedener Herkunft nebeneinander, und siehe da, plötzlich findet man die einzelnen Orte an einer ganz anderen Stelle wieder. Auch die eingezeichneten Straßen haben nicht viel miteinander gemeinsam: Was man bei Freytag und Berndt für eine asphaltierte Hauptstraße halten könnte und im Tunesien-Atlas des HB-Verlags gerade noch als Karawanen-Pfad akzeptieren würde, ist in der Realität überhaupt nicht vorhanden.

Auf einer organisierten Tunesienreise bemerkt man von diesen Unzulänglichkeiten nichts, Busse und Landrover-Karawanen führen den Pauschalreisenden auf gut ausgetrampelten Touristenpfaden sicher und ohne Verzögerungen an sein Ziel. Orte wie Blidti, Zaafrane und Es Sabria bleiben diesen Urlaubern jedoch verborgen. Und dabei bestechen gerade diese Siedlungen das abendländische Auge mit exotischen Bildern, wie man sie nur zweieinhalb Flugstunden von daheim entfernt kaum für möglich halten möchte. Die Romantik der zwischen den Dünen versteckten Palmenhainen mit ihren Brunnen, an denen die Araberfrauen ihre farbenprächtigen Kleider waschen und Wasser holen, Kamelherden und Nomadenzelte läßt allerdings nur allzu leicht den verzweifelten Kampf übersehen, den die Menschen hier tagtäglich gegen eine unbarmherzige Natur zu führen haben.

Kilometerlange Zaunreihen aus Palmblättern, sogenannte Djerids, ragen aus den gigantischen Sanddünen der Sahara-Ausläufer, mit der Aufgabe, das weitere Wachstum der Wüste zu stoppen. Aber die Mühe ist vergebens: Der Wind treibt die Dünen trotz der künstlichen Bollwerke weiter und läßt ganze Straßenzüge unter dem Sand verschwinden. Aus diesem Grund wird Individualtouristen auch immer wieder abgeraten, allein mit dem Auto etwa von Matmata nach Douz – beides beliebte Touristenziele am Rand der Wüste – zu reisen. Bis zu der alten Berbersiedlung Temezret ist die Fahrt unbedenklich, weiter sollte man sich aber nur im Konvoi mit einem erfahrenen Führer wagen.

Es Sabria ist noch etwa eine Autostunde von Douz entfernt, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, wie lange dieses Dorf noch existieren wird. Das Regierungsprogramm, das vorsieht, die letzten noch existierenden Nomadenstämme hier seßhaft zu machen, scheint zum Scheitern verurteilt. Die Lebensbedingungen hier sind schließlich auch nicht so viel besser als draußen in den Zelten – nicht viele sind bereit, ihre Freiheit gegen eine unsichere Zukunft einzutauschen. Auf den engen Straßen zwischen den einzelnen Häuser waten die Kinder auf dem Weg zur Schule knöcheltief im Sand, und die sogenannte Hauptstraße, die sich in Serpentinen zwischen Gehöften und Dünen weiter nach El Faouar schlängelt, ist mit einem normalen Personenwagen zeitweise äußerst schwierig zu bewältigen. Schneller, als man damit rechnet, ist eines der Räder im Sand steckengeblieben, sodaß das Fahrzeug ins Schleudern gerät. Bei zehn Stundenkilometern – abseits der asphaltierten Transitrouten die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit – ist dies zwar nicht gerade gefährlich, dennoch aber lästig.

Der Beamte von der Nationalgarde schlägt uns nach einer heftigen Diskussion mit seinen Landsleuten schließlich vor, weiter in Richtung Westen zu fahren, dann würden wir schon zur nächsten größeren Stadt kommen. Die Reisenden bedanken sich überschwenglich – und setzen ihren Weg aber nach Osten fort.

Die Fahrt nach Westen hätte uns zwar direkt zu unserem nächsten Etappenziel Nefta gebracht, vielleicht aber auch nicht – im Westen breitete sich nämlich in seiner schier endlosen Weite das Schott El Djerid aus, das der unsterbliche Kara Ben Nemsi schon vor mehr als hundert Jahren mit diesen Worten beschrieben hat: „Wehe dem, der auch nur eine Hand breit von dem schmalen Pfade abweicht. Die Kruste gibt nach, und der Abgrund verschlingt augenblicklich seine Opfer. Unmittelbar über dem Kopfe des Versinkenden schließt sich alsbald die Decke wieder.“

Tatsächlich forderte der tückische Salzsee auch in jüngster Zeit noch immer seine Opfer, und erst seit die Route Nationale 16, die das Schott als graues Asphaltband durchschneidet, fertiggestellt ist, können Reisende von Kebili aus das andere Ufer erreichen, ohne um ihr Leben bangen oder einen fast 200 Kilometer langen Umweg auf sich nehmen zu müssen.

Was den See so gefährlich macht, ist die Tatsache, daß er von einer dünnen Salzkruste überzogen ist, auf der sich eine trügerische Schicht Flugsand aus der Sahara niedergelassen hat. Auf den ersten Blick scheint man festen Boden vor sich zu haben, doch kniet man vorsichtig am befestigten Straßenrand nieder, so kann man schon in ein paar Zentimetern Entfernung mit der flachen Hand ein Loch in die Kruste drücken. Zwischen den im grellen Sonnenlicht funkelnden, aus der Ferne fast wie Schnee erscheinenden Kristallen quillt dann das salzige Wasser des geheimnisvollen Sees hervor.

In Tozeur angekommen bietet sich dem Reisenden ein völlig anderes Bild: Herrscht in Es Sabria die Resignation vor, sieht man in der Oase Tozeur der Zukunft optimistisch entgegen. Zwei Dinge sind es, die hier für Reichtum und Zuversicht sorgen: Zum einen die nur in dieser trockenen Wüstenregion reifenden Deglets en Nour („Finger des Lichtes“), wie die angeblich besten Datteln der Welt genannt werden, und zum anderen der Tourismus. Gemeinsam mit der benachbarten Oase Nefta bildet diese Region die letzte Bastion vor der algerischen Grenze. Luxushotels und ein Flughafen machen diesen lebensfrohen Flecken am Rande der Sahara zu einem immer beliebter werdenden Ausflugsziel für Reisende, die ihren Tunesienurlaub vorwiegend an den Badestränden von Nabeul, Hammamet oder Djerba verbringen und nur einmal kurz in das „wilde Hinterland“ hineinschnuppern wollen.

Das Altstadtviertel Ouled Hadef besticht vor allem durch seine einzigartige Backstein-Architektur: Die Häuser sind aus relativ flachen, gebrannten Lehmziegeln gebaut, die phantasievolle Muster und Ornamente bilden. Künstlerische Kreativität steht bei diesem Baustil aber nur an zweiter Stelle: Vorrangige Aufgabe der vorstehenden Ziegel ist es, eine möglichst große Fläche kühlenden Schattens auf die bis zu 80 Zentimeter dicken Mauern zu werfen, ganz gleich, wo am Himmel die Sonne gerade steht. Nur so bleibt es in der sommerlichen Gluthitze hier in der Wüste einigermaßen erträglich. Viele Häuser im Zentrum sind zur Gänze mit Teppichen behängt – die natürliche „Klimanlage“ mußte hier zu Gunsten des Geschäftsinns weichen, denn die geknüpften und derart auffällig präsentierten Kunstwerke sollen die Touristen zum Kauf animieren.

In einem völlig anderen Erscheinungsbild präsentiert sich das in den Bergen im Osten gelegene Matmata. Seit Jahrhunderten leben hier Berberfamilien in Höhlenwohnungen, die sogar für orientalische Verhältnisse kärglich erscheinen. Unterirdische Gänge, mitunter sogar nur Kletterseile, verbinden die einzelnen Räume, die in den durch die Wüstensonne steinhart gewordenen Lehmboden gegraben wurden. Großfamilien leben hier, gemeinsam mit ihren Haustieren, auf engstem Raum, mit oft knappen Wasservorräten, doch sind die Berber nicht daran interessiert, ihre traditionellen Siedlungen zugunsten moderner Wohnhäuser aufzugeben. Die Höhlen bieten nicht nur im Sommer Zuflucht vor der Hitze, sie schützen auch vor der eisigen Kälte so mancher Winternacht.

Versuche der tunesischen Regierung, die Höhlenwohnungen ebenso zu eliminieren wie die wabenförmigen Ghorfa-Siedlungen an den Berghängen weiter im Süden, wurden glücklicherweise aufgegeben – unter anderem, weil immer mehr Urlauber ihr Interesse an den historischen Bauten bekunden. Matmata ist eines von wenigen Beispielen, in denen der Tourismus dazu beigetragen hat, volkstümliches Gut der Nachwelt zu erhalten – und steht damit stellvertretend für ganz Tunesien, das die touristische Vermarktung von Traditionen als potentielle Einnahmequelle entdeckt hat und sich nicht zuletzt dadurch zum wohlhabendsten Maghrebstaat entwickelte.